Im Zeichen des Bürgertums

Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Industrialisierung, der Kapitalisierung, der Säkularisierung und nicht zuletzt der Demokratisierung. Diese ganze Entwicklung wurde von einem sozialen Stand entscheidend geprägt: Dem Bürgertum. Charles Morazés viel gelesene Gesamtdarstellung des 19. Jahrhunderts trägt deshalb auch den bezeichnenden Titel: „Triumph des Bürgertums.“
Die Definition des Begriffs „Bürgertum“ lässt allerdings bis heute Fragen offen. Man hat sich zwar in der Bürgertumsforschung im deutschsprachigen Raum vor allem in den 80er Jahren darauf geeinigt, dass das „Bürgertum“ aufgrund gemeinsamer politischer, wirtschaftlicher Interessen, in Kommunikations-, Lebensformen sowie Normen und moralischen Codes als analytische Einheit betrachtet werden kann – dennoch haben wir es mit einer Einheit zu tun, die innerlich vertikale wie horizontale, kulturelle wie finanzielle, soziale wie politische Brüche aufweist.
Ulrike Döcker erfasst als eine der wenigen in ihrer Arbeit „Die Ordnung der bürgerlichen Welt“ das Bürgertum nicht in erster Linie als gesellschaftliche Schicht, sondern als „kulturelle Praxis“, was sich im Hinblick auf die Antibürgerlichkeit der Boheme insofern als günstiger Ansatz erweist, als sich die antibürgerlichen Strömungen in der Kunst nicht vornehmlich gegen einzelne bürgerliche Schichten richten, sondern gegen bürgerliche Moralpraktiken und bürgerliche Ästhetik, wenn man auch bald in der bigotten Mittelschicht den grössten Hauptfeind zu erkennen glaubt.
Natürlich gilt es dennoch, die einzelnen sozialen Schichten zu betrachten, die unter den Begriff des Bürgertums fallen – insbesondere ihre gegenseitigen Abgrenzungsmechanismen und ihre anhaltenden Ängste der sozialen Eigendefinition.
Nur soviel vorweg: Während beim bürgerlichen Mittelstand diese Ängste dazu führen, noch stärker und bigotter auf bürgerliche Moralpraktiken zu pochen, führen sie bei den Grossbürgern – insbesondere bei den „ewig besseren“ Snobs – dazu, sich gerade dadurch vom so verachteten Mittelstand abzugrenzen, indem man sich über diesen Moralcodex hinwegzusetzen beginnt und in den antibürgerlichen Kanon der Boheme miteinstimmt.
Diese Brüche und Widersprüche sind es – wie wir sehen werden –, die für die Entwicklung der Kabaretts und Dirnenlieder von Bedeutung werden. Das Schlagwort heisst „gegen“ das Bestehende. Die Antimoral, die der bürgerlichen Moral entgegengesetzt wurde; das Antiideal, das dem Ideal des bürgerlichen Weiblichkeitsbildes entgegentrat, und besonders auch die antibürgerliche Ästhetik sind Ursachen, die uns zur Umgestaltung des Weiblichkeitsbildes in der Kunst und zum Trend der Darstellung der Frau als Dirne, Femme-fatale, Vampirin und Vamp führen.
Manche Arbeiten teilen die Entwicklung des Bürgertums im 19. Jahrhundert in drei Phasen ein: Aufstieg (Ende des 18. Jh.s bis ca. 1840); Wende (1840-1870); und Defen­sive (1870-1914); oder man teilt (wie Hans Rosenberg) nur in zwei Phasen ein: Auf­schwungperiode (1849-73) und „Great Depression“ (1873-96). Für unsere Untersuchungen wird besonders die Phase, über die man sich relativ einig ist, von Bedeutung: die Defensive, deren Zeitraum das letzte Drittel des Jahrhunderts erfasst und bis ins 20. Jh. hineinreicht.
Der Aufstieg des Bürgertums war geprägt vom industriellen und kapitalistischen Aufschwung. Als Folge der Revolution von 1848 förderten administrative Reformen eine offenere Wirtschaftspolitik; auch der zurückgehende Einfluss des Staates und eine liberalere Gesetzgebung unterstützten den Aufschwung des bürgerlichen Standes.
Trotz finanzieller und wirtschaftlicher Erstarkung blieb das Bürgertum jedoch weiterhin von politischer Macht ausgeschlossen. Dem Erfolg aufstrebender Industrieller waren zwar keine finanziellen, wohl aber machtpolitische Grenzen gesetzt. Diese nach wie vor existierende politische Zurückgesetztheit gegenüber dem Adel brachten natürlich „Minderwertigkeits-Komplexe“ mit sich. Um diesen zu entgehen und sich eben nicht nur als „dem Adel unterstellter Stand“ zu sehen, wurde die Frage nach der autonomen Selbst-Definition des eigenen Standes im Bürgertum immer wichtiger – es galt, sich sowohl nach oben – gegenüber dem Adel – abzugrenzen als auch nach unten gegenüber den Arbeiterschichten, mit denen man immerhin das Schicksal der politischen Machtlosigkeit teilte. Diese Selbst-Definition konzentrierte sich nun – da keine positiv-politische Definition möglich war – besonders auf die Ausbildung „bürgerlich-moralischer“ und „kapitalistischer“ Werte. Als Folge begann man die bürgerlichen Interessen vor allem auf das häusliche und private Leben und die Ausbildung eines bürgerlichen Moralcodexes zu konzentrieren.
Dieser Moralcodex war für den Mann bestimmt durch Tugenden wie Treue, Ehrlichkeit, Fleiss, Intelligenz, Tüchtigkeit und Aufrichtigkeit, die das Idealbild des bürgerlich erfolgreich aufstrebenden Unternehmers kennzeichneten und damit den weiteren Aufschwung sichern sollten. Für die Frau war er bestimmt durch bedingungslose Treue gegenüber ihrem Gatten, die Liebe zu den Kindern, Frömmigkeit, Reinheit – kurz: ein patriarchalisches Idealbild der Frau an Heim und Herd. Neben dieser bürgerlichen Moral als Definitionsfunktion diente auch das Geld als Hilfsmittel zur Abgrenzung gegenüber dem Adel. Denn obwohl die Aristokratie zwar noch vorwiegend im Besitz politischer Macht und Ansehen war, waren breite Schichten des Adels verarmt. Demgegenüber standen die neureichen bürgerlichen Schichten, die ihre finanzielle Potenz vor dem Adel gern demonstrierten. Aus diesem Geltungsdrang heraus entwickelte sich in breiten Teilen des Bürgertums eine überschwängliche Amüsiersucht der Neureichen, die ihren frisch erworbenen Wohlstand demonstrativ zur Schau trugen.
Ab den 1860er und 70er Jahren – also in der Phase der oben erwähnten „Defensive“ – änderte sich die Problematik der bürgerlichen Definition gewaltig, was besonders mit der aufkommenden Arbeiterbewegung und dem zunehmenden politischen Einfluss der kapitalstarken Wirtschaft zusammen hing. Das Bürgertum begann, sich innerlich stark aufzusplittern. „Mittelschicht“ heisst das Schlagwort, das für diese Entwicklungsphase prägend wurde. Durch die Industrialisierung wurden nicht nur Arbeitsplätze für Fabrikarbeiter geschaffen, sondern auch für zahlreiche Buchhalter, Sekretärinnen, Verkäuferinnen und – gegen Ende des Jahrhunderts – für Telefonistinnen. Sie alle bildeten die breite Masse des Kleinbürgertums – des Mittelstands.
Besonders Peter Gay hat diese Selbstdefinition der einzelnen Schichten im Kapitel „Die Last der Definition“ in seiner Arbeit „Erziehung der Sinne“ genau herausgearbeitet und gezeigt, dass die Definitionsfrage der einzelnen bürgerlichen Stände immer von der Angst getrieben war, in die nächst untere Schicht abzurutschen. In Frankreich begann man zwischen „petite“, „bonne“ und „haute Bourgeoisie“ zu unterscheiden. Auch in Deutschland nahm diese Entwicklung ihren Lauf, doch begann man hier darüber hinaus besonders zwischen Geld und Geist zu unterscheiden: Bildungsbürger und Besitzbürger standen einander gegenüber. Das Bürgertum spaltete sich mehr und mehr vertikal wie horizontal auf. Karl Erich Born sieht diese Entwicklung der Zersplitterung vor dem Ersten Weltkrieg als abgeschlossen und konstatiert: „[...] am Vorabend des Ersten Weltkriegs gibt es ‚Das Bürgertum’ als Stand oder Gesellschaftsschicht nicht mehr. Es hat sich in einzelne Gruppen zersplittert, für die es keinen gemeinsamen sozialen Nenner mehr gibt. Diese Zersplitterung des alten Bürgertums resultierte aus der starken Differenzierung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen, des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Horizonts seit den siebziger Jahren.“
Die unterste und breiteste Schicht, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbildete, war der Mittelstand – der Kleinbürger. Die Angstreaktion des Mittelstands, der gegen unten nah an den Arbeiterstand grenzte, war die noch radikalere Praktizierung der bürgerlichen Moral. In der Moral erblickte man das Bollwerk gegen die Gefahr des „rohen“ und „unkultivierten“ Arbeiterstands und pochte daher strenger und prüder als je zuvor darauf. Damit konzentrierten sich die Werte des Mittelstands noch stärker auf häusliche Zurückgezogenheit, Familie und den patriarchalischen Moralcodex. Das höhere Bürgertum hingegen blickte herablassend auf die engen Moralvorstellungen des Mittel­stands und fand gerade in der strikten Moralausübung die Angriffspunkte, die will­kommen waren, um sich innerlich gegen das verklemmte, prüde Kleinbürgertum ab­zugrenzen. Hatten die Bohemiens schon längst der bürgerlichen Moral den Kampf an­gesagt, so stimmten nun – zuerst in Frankreich – breite Schichten der „haute“ und „bonne Bourgeoisie“ in diesen Kanon mit ein. Auf diese Art und Weise konnte sich vor allem in der Kunst ein antibürgerlicher Trend entwickeln, der in vielen Kreisen des hohen Bürger­tums mit Beifall aufgenommen wurde. Auch der Trend zur Amüsiersucht erstarkte unter diesem Blickpunkt. Die Amüsiersucht stand zwar schon immer im Gegensatz zur bür­gerlichen Moral, wie viele Benimm- und Moralschriften der Zeit beweisen, die heftigst gegen Mode, Varieté, Tabak, Alkohol und Prostituierte wetterten, doch wandelte sie sich nun im letzten Drittel des Jahrhunderts vom demonstrativen Geltungsdrang gegenüber dem Adel – wie in der Aufschwungphase – zum antimoralischen Trend und zur offen aus­gelebten Kritik an der verklemmten, „braven“ bürgerlichen Moral, die man mittlerweile nur noch den Kleinbürgern zuschrieb.
"Im Zeichen des Bürgertums" hiess also für die Bürger des 19. Jahrhunderts besonders im "Zeichen der Angst" um die eigene Identität. Diese Abgrenzungsmechanismen werden für uns im Hinblick auf das snobistische Publikum, welches zum Beispiel Aristide Bruant verehrt, am deutlichsten erkennbar. Er beschimpfte in seinem Cabaret „Le Mirliton“ das Publikum, das sich in erster Linie aus „haute Bourgeoisie“ zusammensetzte, als „dreckige Idioten“, „Saubande“, „Fettärsche“ etc. Dass sich sein snobistisches Publikum dies gefallen liess und noch dazu Gefallen daran fand, kann man wohl zu einem nicht un­wesentlichen Teil auf solche Abgrenzungsmechanismen zurückführen. Die Angstreaktion der Abgrenzung ist aber auch mitverantwortlich dafür, dass die Antimoral-Bewegung der Boheme, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Kampf- und Galionsfigur besonders in der Dirne fand, ebenfalls die Zustimmung grossbürgerlicher und snobistischer Publikumsschichten findet.