Der Begriff "Dirnenlied" im
historischen Kontext

Die ersten "literarischen" Dirnenlieder finden wir in den Pariser Cabarets des Montmartres um 1885, insbesondere beim naturalistischen Chansonnier Aristide Bruant1, aber auch bei Yvette Guilbert. Beide erlangten grosse Bekanntheit und Beachtung. Besonders Yvette Guilbert übte durch ihre Gastspielreisen entscheidende Einflüsse auf das deutsche Kabarett aus. Gastspielreisen nach Deutschland unternahm auch das Cabaret "La Roulotte" - und auch hier wurden Dirnenlieder vorgetragen. Erstaunlich ist, dass es im Französischen keinen Begriff für "Dirnenlied" gibt. Noch erstaunlicher, dass in den Texten der französischen Dirnenlieder (insbesondere bei Bruant) nicht einmal das Wort Dirne (la putain) noch andere abschätzende Worte wie (la salope, la garce) vorkommen, geschweige denn, dass die Lieder so betitelt sind. Wenn Aristide Bruant beispielsweise in seinen Dirnenliedern im Pariser Gossenslang eine Dirne singen lässt, braucht er dazu keine Substantive (Dirne, Hure, Prostituierte oder leichtes Mädchen), um klar zu stellen, um was für eine Figur es sich handelt. Bruants Dirnen definieren sich als solche durch ihre Lebensgeschichte, die Erzählungen von Freiern und Zuhältern, und wenneine Dirne sagt, dass sie auf den Strich geht, geschieht dies meist in einem Nebensatz wie beispielsweise in "A la Villette", wo die Dirne eigentlich nur von ihrem geliebten Zuhälter erzählt und sich selber und ihren "Beruf" als Nebensache erwähnt: "Quélqu'fois, quand j'faisais les boul'vards" (Manchmal, wenn ich auf den Strich ging). Deutlicher als die Franzosen gehen die deutschen Dichter mit dem Stoff um. Der naturalistische Lyriker Karl Henckell betitelt als einer der ersten ein Lied mit "Die Dirne" (entstanden zwischen 1887 und 1890). Darin erzählt und klagt eine alte Dirne aus der Ich- Perspektive über ihr Leben - ganz im Geist des Naturalismus.6
Dass sich der Begriff "Dirnenlied" um die Jahrhundertwende bereits als feste Bezeichnung für eine bestimmte Liedgattung etabliert hat, wird durch verschiedene Publikationen bezeugt. Am deutlichsten durch die 1903 im Zürcher Caesar Schmidt Verlag erschienene Lieder-Sammlung, die den Begriff bereits im Titel trägt: Dirnen- und Gassenlieder. Zwei Lieder in dieser Sammlung tragen explizit den Titel "Dirnenlied" - das eine stammt aus der Feder des Herausgebers Egon Hugo Strasburger, das andere von Adele Schreiber. Bei beiden Liedern handelt es sich um Rollenlieder aus der Ich-Perspektive einer Prostituierten. Auch taucht der Begriff innerhalb eines Liedtextes von Oscar Wiener auf, im Zusammenhang mit der Beschreibung einer Dirne, die ein solches Lied singt:

"Und du - und du: dein Lachen griff
Mit kalter Hand
In meinen Brand,
Und deine Mädchenlippe pfiff
Ein Strassenlied,
Ein Dirnenlied. - - -"

Ein Dirnenlied von Richard Zoozmann, das in der Sammlung enthalten ist, trägt ebenfalls den Titel "Die Dirne", den wir bereits bei Henckell fanden. Auch Zoozmanns Lied ist ein Rollenlied einer Dirne. Entscheidend scheint, dass in dieser Sammlung einige Autoren vertreten sind, die auch für das junge deutsche Kabarett tätig waren: Der Wiener Journalist Leo Heller, der in den 20er Jahren neben Walter Mehring der wichtigste Hausautor von Trude Hesterbergs "Wilder Bühne" wird, ist mit acht Texten vertreten; er hatte auch bereits Lieder für Ernst von Wolzogens "Überbrettl" geliefert. Richard Zoozmann, der 1915 die Sammlung "Unartige Musenkinder" herausgibt, in der sich ebenfalls Dirnenlieder finden12 und die sich zahlreicher Neuauflagen erfreute - ist hier ebenso vertreten wie Dolorosa, die erotisch-schwülstige Lyrikerin, die zu dieser Zeit besonders im literarischen Bohemienkreis der "Kommenden" in Berlin verkehrte. Eine weitere wichtige Publikation, in der der Begriff "Dirnenlied" mehrmals verwendet wird, ist Hans Ostwalds dreibändige Sammlung "Lieder aus dem Rinnstein" (Bd.1 1903; Bd.2 1904; Bd.3 1908), in der Ostwald Vagabunden-, Landstreicher-, Verbrecherund Dirnenlieder zusammenstellte. Margarete Beutlers "Dirnenlied" (in Bd.1) ist einmal mehr ein Rollenlied einer alten Dirne, ebenso Leo Greiners im selben Band enthaltener Text "Die Dirne".
Neben den Gedichten von Autoren wie Margarete Beutler, Leo Greiner, Detlev von Liliencron, Frank Wedekind und vielen anderen nahm Ostwald auch Volkslieder in seine Sammlung auf. Die Texte dieser Volkslieder hat Ostwald zumeist selbst in den Spelunken und Wanderherbergen zusammengetragen und aufgezeichnet. Da Volkslieder in den wenigsten Fällen über eindeutige Titel verfügen und meist nach dem Anfang der ersten Zeilen benannt werden, hat Ostwald manche mit eigenen Titeln versehen, so zum Beispiel das "Berliner Dirnenlied" (Bd.1.), das er angeblich in einem Berliner Nachtkaffeehaus notiert hat:

Eenes Abends nach dem Sturm
Jing ick um den Juliusturm,
kam de stolze Sitte her:
Kleenet Mächen, komm mal her [...]"

Ostwald benutzt den Begriff "Dirnenlied" offensichtlich bereits als Gattungsbezeichnung. So setzt er unter einen Text mit dem Titel "I pfeiff drauf" in Klammer die Anmerkung: "Aus einem Wiener Dirnenlied". Beim Lied "Ein Mädchen für Geld" fügt Ostwald die Erläuterung an: "Aufgezeichnet vom Herausgeber nach einem weit verbreiteten Dirnenlied". Auch bei diesem Lied handelt es sich wie beim "Berliner Dirnenlied" um ein Rollenlied, in dem eine Dirne aus der Ich-Perspektive erzählt.

"Ja, in Hamburg, da bin ich gewesen
In Sammet und in Seide eingehüllt.
Meinen Namen, den durft' ich nicht nennen,
dann ich war ja ein Mädchen für Geld."

Dass Ostwald jedoch unter "Dirnenlied" nicht nur das Rollenlied aus der Ich-Perspektive einer Dirne versteht, belegt ein Beispiel aus dem dritten Band. Hier druckt er ein Textfragment von sieben Zeilen ab, das er mit der Überschrift "Aus einem Dirnenlied"19 versieht. Ob die folgenden Zeilen ihm nicht bekannt sind, oder ob er sie, wegen allzu grosser "Deutlichkeit" wie bei manchen anderen Liedern der Sammlung weglassen muss, gibt er nicht an. Dieser von ihm als "Dirnenlied" bezeichnete Text berichtet aus der Perspektive eines neutralen Erzählers "ÜBER" eine Dirne: " [...] Sie war erst 15 Jahr, Als er ihr Lude war."
An diesem Beispiel zeigt sich, dass wir das Dirnenlied unmöglich nur als Rollenlied einer Dirne festlegen können. Ostwald betrachtet die "Dirnenlieder" - dies geht aus seinen Vorworten zu den drei Bänden hervor - als thematische Lied-Sparte, insbesondere des Volkslieds. Jede Berufsgattung kennt ihre Lieder: Die Soldaten singen "Soldatenlieder", die Handwerker singen "Handwerkerlieder", die Vagabunden "Vagabunden- und Wanderlieder" und genau so singen die "Dirnen" eben "Dirnenlieder". Unterscheiden wir also Sparten des Volkslieds wie die "Soldatenlieder", "Wanderlieder" und "Handwerkerlieder", so fällt auf, dass es sich bei der Einteilung dieser Lieder - abgesehen von der allgemeinen Form "Lied" - allein um eine thematische Gliederung handelt. Alle diese Sparten kennen die verschiedensten Formen und Erzählperspektiven, sei es, dass es sich um Balladen oder Strophenlieder (mit oder ohne Kehrreim) handelt, sei es, dass es sich um eine "Ich"-, eine "Wir"- oder eine neutrale Erzählperspektive handelt.
Als Form-Merkmal lässt sich lediglich ein gemeinsamer Nenner ausmachen: Es sind Lieder - also in lyrischer Form gestaltete Texte, die zu einer Melodie (meist gibt es verschiedene Varianten) gesungen werden können. Ebenso lässt sich bereits jetzt vermuten, dass auch das Dirnenlied nach eben solchen Kriterien definiert werden kann: Nämlich nach der Form als Lied und der spezifischen Dirnenthematik.
Unabhängig von den "Liedern aus dem Rinnstein" und den "Dirnen- und Gassenliedern" brachte Emil Carl Blümml in Wien 1906 seine Sammlung "Erotische Volkslieder" heraus. Auf Grund der allzu grossen sexuellen Offenheit der darin enthaltenen Volksliedtexte durfte die Sammlung im katholischen Kaiserreich nur als Privatdruck mit nummerierten Exemplaren erscheinen. Damit und durch die geringe Auflagenhöhe von 1'000 Exemplaren war eine grössere Verbreitung und Rezeption von vornherein ausgeschlossen. Auch Blümml begreift das "Dirnenlied" als eine eigene Liedgattung, verwendet jedoch einen andern Begriff: "Hetärenlied". Auf die Definition von "Hetäre" und insbesondere auf den Gebrauch des Begriffs in unserem Zeitraum der Untersuchung werden wir noch genauer eingehen. Blümml benutzt den Begriff "Hetäre" jedoch als Synonym für "Dirne" und "Prostituierte". Er grenzt intuitiv - wie Ostwald - das Dirnenlied nicht primär als Rollenlied ein, sondern als thematische Gattung, bei der die Figur der Dirne im Zentrum steht. Dies zeigen deutlich die beiden folgenden Texte, die er mit der Anmerkung "Hetärenlied"
versieht:

[ohne Titel]
Sie sass am Fenster in der Kirchberggasse
Ich ging vorbei in herber Liebesqual,
ich sprach zu ihr: Du holde Blasse,
Was kostet es bei Dir ein einzigmal?
Zwei Flörl22, sprach sie, dann will ich Dich erlösen!
O holde Maid, so viel nenn' ich nicht mein [...]"

Streng genommen handelt es sich bei diesem Lied um ein Freier-Rollenlied. Der männliche Protagonist wirbt um die Liebesgunst der Dirne, wovon er uns selbst berichtet. Ebenso im folgenden von Blümml notierten "Hetärenlied" aus Wien ca. 1870:

"Erst neulich kam zu mir
Ein Mädchen ins Quartier.
Sie wirft ihr'n Binkel weg
Und springt zu mir in's Bett [...]"

Dagegen handelt es sich bei dem von Blümml ebenfalls als "Hetärenlied" bezeichneten Text "Vergissmeinnicht" eindeutig um ein Rollenlied einer Dirne, die ihre Freier bewusst ins Verderben schickt, indem sie sie mit einer Geschlechtskrankheit ansteckt:
"Vergiss mein nicht, wenn's in den Hosen stinket
Und deinen Schwanz der Eiterstock zerstört,
Vergiss mein nicht, wenn er vor Schmerzen sinket
Und dich nach keinem Fick in Jahr und Tag begehrt, [...]"

Neben dem Begriff "Hetärenlied" finden wir bei Klabund eine weitere Begriffsvariante in seinem Chanson: "Hamburger Hurenlied". Der Begriff "Dirnenlied" wird jedoch nicht nur von Seiten der Herausgeber und Autoren, die ihre Lieder mit "Dirnenlieder" bezeichnen, als Gattung wahrgenommen, sondern auch von den Rezipienten, dem Publikum und den Kritikern. Der Autor und Kritiker Max Herrmann-Neisse spricht von der "Mode der Dirnenlieder", Franz Schulz schreibt in der "Neuen Schaubühne": "Die grosse Zahl der Dirnen im Cabaret, beziehungsweise der Damen, welche Dirnenlieder singen, frappiert."29 Und Julius Bab benutzt den Begriff in einer Kritik über Rosa Valettis "Grössenwahn" in der "Weltbühne": "Und wenn die Valetti in einem Dirnenlied hoch herauspulvert - den Moment, wo sie einem dummen Luxusgeschöpf aus reinem, überpersönlich grossem Hass ins Gesicht geschlagen hat - ihre heisere Bassstimme heult Orkane, ihre Arme fahren mit bärenhaftem Schlag durch die Luft, ihr Leib steht schräg aufgerissen im Raum: so ist mehr Aufruhr, mehr wirkliche Revolution darin, mehr chaotischer Naturvorgang als in sämtlichen expressionistischen Dramen zusammengenommen."
Nach diesen Betrachtungen können wir über die Verwendung des Begriffs "Dirnenlied" in seiner Zeit Folgendes festhalten: Als "Dirnenlieder" wurden meist (aber eben nur meist) Rollenlieder aus der Perspektive einer Hure bezeichnet. Darüber hinaus wurde der Begriff aber auch für Lieder verwendet, bei denen die Figur der Dirne in irgendeiner Weise thematisch im Zentrum steht - unabhängig von der Perspektive des Erzählers.